Samstag, 13. Oktober 2012

Erleben, Erinnern


Suhrkamp
Christa Wolf
August
Erzählung
978-3-518-42328-8
Klappenbroschur, 14,95 €

Augúst, dachte ich, als ich den Titel las, aber nach dem ersten Satz wusste ich, es geht um Áugust. Christa Wolf lässt ihn in der Gegenwart als alten Busfahrer mit einer Ladung von Rentner-Ausflüglern zurückreisen in die Anfänge seines Lebens, sich erinnern. Sie schafft es, wach seine Eindrücke der Gegenwart mit den Gefühlen und Erlebnissen der Kindheit zu verweben. August, diesem völlig fremden Menschen, werde ich als Leser zugeneigt, mit seinem Kummer, seinem Sehnen, seinem Lieben. Ecce homo.

Christa Wolf hören, Oktober 2010

Beglückt, betroffen

Vor zwei Jahren hörte ich Christa Wolf, die aus ihrem Roman “Stadt der Engel” las. Das war im Rahmen der Jahresversammlung der Viktor-von-Weizsäcker-Gesellschaft, die sich mit Krise und Biographie befasste. Es ging auch dort – und im Roman – um Erinnern und Erleben, und es gab anregende Fragen und Diskussionen. 

 "August" verdichtet so vieles von dem, was Christa Wolf wohl Zeit ihres Lebens bewegt hat: das Verständnis für den Menschen neben uns, den Fremden, mitunter Schwierigen, die Gefährtenschaft. Es geht um Krankheiten, gesundheitlicher und seelischer Natur. Gesellschaft und Politik – all das hat Christa Wolf mit Weisheit und in klarer Prosa zu Wort gebracht, damit wir es lesen.

Und dann nennt Christa Wolf, die im Osten aufwuchs, soviele "Schrüchskes" und Lieder, die ich, die ich ganz vom Westen komme und in späteren Jahren aufwuchs, auch kenne. Ihre Freude an Volkes Mund und am Lied, zusammen mit ihrem Blick für die Schönheit der Natur, für Architektur und Kunst durchzieht ihre Prosa, weil all dies zu unserem Menschsein gehört, auch und gerade wenn die Zeiten hart sind. Die Erzählung beglückt.

Das Leben von August ist von Krieg, Vertreibung, Flüchtlingsnot geprägt. Dass die Politiker und Obwalter der europäischen Länder dies nach wie vor andernorts verschulden oder unterstützen und mit denen, die heute bei uns als Waisen und Flüchtlinge und Vertriebene stranden, oder auch nur dies versuchen, von Jahr zu Jahr harscher umspringen, sollte sie angesichts der Friedenspreisverleihung beschämen; sie sollten innehalten und das menschliche Miteinander im Kleinen und Großen neu bedenken. Wir Bürger sollten dies ebenso bedenken. Für Christa Wolf zählte zuerst der Mensch, nicht die Politik. Aber es tut auch politisch Not, Christa Wolf zu lesen. Damit wir wach bleiben und betroffen.

Suhrkamp
Christa Wolf
Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
Roman

978-3-518-46275-1
Tb, 10,99 €



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